Eine kürzlich an der Universitätsmedizin Essen durchgeführte Studie zeigt, dass Musiktherapie positive Auswirkungen auf die Vitalparameter Herzfrequenz, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung bei frühgeborenen Kindern haben kann, wenn sie im Schlaf durchgeführt wird.
Frühgeborene sind Neugeborene, die vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Jedes Jahr werden weltweit etwa 15 Millionen Kinder zu früh geboren (Chawanpaiboon et al., 2019). Obwohl Frühgeborene nicht primär krank sind, kann die Unreife der Organe kurz- und langfristig zu verschiedenen medizinischen Problemen führen.
Das musiktherapeutische Angebot in der Neonatologie ist eine evidenzbasierte Präventionsmaßnahme für die Stabilität und Entwicklung eines frühgeborenen Kindes und kann das bestehende medizinische Behandlungsangebot sinnvoll ergänzen. Die Musik knüpft an die intrauterinen akustischen Erfahrungen an und hilft somit, die hoch technisierte Umgebung einer Intensivstation durch etwas Bekanntes und Menschliches zu bereichern. Sie unterstützt die Wahrnehmungen, die zur strukturellen und funktionellen Entwicklung des Kindes beitragen (Kobus, 2017).
Musiktherapie dient als Interaktionsmittel, als nonverbale Form der Kommunikation und zur Förderung der individuellen Entwicklung des Kindes (Kobus, 2018). Aus bisherigen Studien geht hervor, dass sich Musiktherapie bei Frühgeborenen stabilisierend und entspannend sowohl auf den allgemeinen Verhaltenszustand als auch auf die Vitalparameter Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz auswirken kann (Loewy et al. 2013; Arnon et al., 2006; Mirmiran et al., 2003; Maier-Riehle et al., 2000). Diese positiven Effekte lassen sich bereits während einer einzelnen Intervention verzeichnen (Kehl et al., 2020). Live gespielte Musik und live gesungene Schlaflieder sind im Vergleich zu aufgenommener Musik wirksamer, um die Vitalparameter zu verbessern (Arnon et al., 2006).
Um die Auswirkungen der Musiktherapie auf die Vitalparameter im Schlaf zu untersuchen, wurden in der genannten Studie 307 Musiktherapiesitzungen von 20 Frühgeborenen, die vor Vollendung der 32. SSW zwischen Oktober 2018 und November 2019 an der Universitätsmedizin Essen geboren wurden, analysiert.
Nach Vollendung der ersten Lebenswoche wurde bei klinisch stabilen Patienten zweimal wöchentlich bis zur Entlassung für etwa 20 bis 30 Minuten eine kreative Musiktherapie durchgeführt. Die Musiktherapie wurde für jeweils ein Kind individuell durchgeführt und war keine Musikbeschallung des ganzen Intensivraumes. Jede Sitzung bestand aus individuellem und improvisiertem Singen durch die Musiktherapeutin und/oder dem Einsatz des Instrumentes Sansula. Das improvisierte Singen wurde an die Atmung und die Reaktionen der Kinder angepasst (Kobus et al., 2021).
Von 307 musiktherapeutischen Sitzungen wurden 150 (49 %) durchgeführt, bei denen die frühgeborenen Kinder vor, während und nach der Musiktherapie schliefen. Die Herzfrequenz sank bei diesen Kindern um 1,1 Schläge pro Minute, die Atemfrequenz um 8,8 Atemzüge pro Minute und die Sauerstoffsättigung stieg um 1,6 %. Zusammenfassend bestätigt die Studie frühere Erkenntnisse zur stabilisierenden Wirkung von Live-Musiktherapie auf die Vitalparameter. Es wurden neue Erkenntnisse darüber gewonnen, dass die Musiktherapie bei Frühgeborenen auch im Schlaf sehr wirksam ist (Kobus et al., 2021).
Literatur:
Arnon, S., Shapsa, A., Forman, L., Regev, R., Bauer, S., Litmanovitz, I., & Dolfin, T. (2006). Live Music Is Beneficial to Preterm Infants in the Neonatal Intensive Care Unit Environment. Birth (Berkeley, Calif.), 01 Jun 2006, 33(2):131-136. doi:10.1111/j.0730-7659.2006.00090.x
Chawanpaiboon, S., Vogel, J. P., Moller, A. B., Lumbiganon, P., Petzold, M., Hogan, D., Landoulsi, S., Jampathong, N., Kongwattanakul, K., Laopaiboon, M., Lewis, C., Rattanakanokchai, S., Teng; D. N., Thinkhamrop, J., Watananirun, K., Zhang, J., Zhou, W., & Gülmezoglu, A. M. (2019). Global, regional, and national estimates of levels of preterm birth in 2014: a systematic review and modelling analysis. Lancet Glob Health. 2019 Jan;7(1):e37-e46. doi: 10.1016/S2214-109X(18)30451-0. Epub 2018 Oct 30.
Kehl, S. M.; La Marca-Ghaemmaghami, P.; Haller, M.; Pichler-Stachl, E.; Bucher, H. U.; Bassler, D.; & Haslbeck, F. B. (2020). Creative Music Therapy with Premature Infants and Their Parents: A Mixed-Method Pilot Study on Parents’ Anxiety, Stress and Depressive Symptoms and Parent–Infant Attachment. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18(1), 265; https://doi.org/10.3390/ijerph18010265
Kobus, S. (2017). Die musiktherapeutische Begleitung Frühgeborener zur Bewältigung des Übergangs von der intrauterinen in die extrauterine Welt. In: Jahrbuch Musiktherapie 2017. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG.
Kobus, S. (2018). Musikalische Begleitung für Frühgeborene und ihre Familien. Reihe Zeitpunkt Musik. Dr. Ludwig Reichert Verlag; Wiesbaden, Germany: 2018.
Kobus, S.; Diezel, M., Dewan, M. V., Huening, B., Dathe, A.-K., Felderhoff-Mueser, U., & Bruns, N. (2021). Music Therapy Is Effective during Sleep in Preterm Infants. International Journal of Environmental Research and Public Health 2021, 18. 8245. https://doi.org/10.3390/ijerph18168245
Loewy, J.; Stewart, K.; Dassler, A.-M.; Telsey, A.; & Homel, P. (2013). The Effects of Music Therapy on Vital Signs, Feeding, and Sleep in Premature Infants. Pediatrics 2013, 131, 902–918. doi: 10.1542/peds.2012-1367
Maier-Riehle, B.; & Zwingmann, C. (2000). Effektstaerkevarianten beim Eingruppen-Prae-Post-Design: Eine kritische Betrachtung. Rehabilitation 2000, 39, 189–199. doi: 10.1055/s-2000-12042
Mirmiran, M.; Maas, Y. G. H.; & Ariagno, R. L. (2003). Development of fetal and neonatal sleep and circadian rhythms. Sleep Med. Rev. 2003, 7, 321–334. doi: 10.1053/smrv.2002.0243
Link zum Paper: https://doi.org/10.3390/ijerph18168245